So sah es leider oft in der Praxis aus: Person im Ausland wird eine Straftat in der Schweiz, meist ein Verkehrsdelikt (Verletzung der Verkehrsregeln) vorgeworfen. Sie lässt vielleicht auch als rechtsschutzversicherte Person Einsprache erheben. Die Staatsanwaltschaft erlässt eine Vorladung. Der Rechtsanwalt versucht die Staatsanwaltschaft davon zu überzeugen, auf die Vorladung zu verzichten, da der Einsprecher alles gesagt habe, da die Akten alles wiedergeben würden, da es sich um eine technische Frage handle oder vor allem, da der Einsprecher die Aussage verweigere.

Die Staatsanwaltschaft hielt oft mit fadenscheinigen Begründungen dagegen. Dabei war es aber so, dass es oft auch nicht nur aus obigen Gründen keinen Sinn machte, zu erscheinen, sondern es im Verhältnis zur Debatte stehenden Busse keinen wirtschaftlichen Sinn machte, einen allenfalls langen Weg auf sich zu nehmen. Folge: entweder risikierte man eine Rückzugsfiktion und der Strafbefehl wurde als rechtskräftig bezeichnet oder man zog die Einsprache zurück.

Diesem Unsinn hat nun offenbar das Bundesgericht ein Ende gemacht:

Einsprache gegen Strafbefehl – keine Erscheinungspflicht für Personen mit Wohnsitz im Ausland

Wortlaut BGE: 1B_377/2013 vom 2014: Vorladung des im Ausland wohnhaften Beschuldigten

…“Die Vorinstanz trat auf die Beschwerde des Beschwerdegegners nicht ein, soweit er sich gegen die Vorladung zur Einvernahme in Altdorf richtete. Sie erwog, den Beschuldigten treffe keine Pflicht, eine Vorladung ins Ausland zu befolgen. Entsprechend dürften vorgeladene Personen weder im ersuchenden noch im ersuchten Staat irgendwelchen rechtlichen oder tatsächlichen Nachteilen ausgesetzt werden, wenn sie die Vorladung missachteten. Das Fernbleiben könne dem Beschwerdegegner somit nicht zum Nachteil gereichen, womit er insoweit kein rechtlich geschütztes Interesse an der Beschwerde habe. Was sein Gesuch um seine rechtshilfeweise Einvernahme in der Slowakei betreffe, habe er hingegen ein solches Interesse. Das Gesuch könne nicht als rechtsmissbräuchlich betrachtet werden, obliege die Verfahrensleitung doch der Beschwerdeführerin und hätte diese die Möglichkeit gehabt, das Verfahren voranzutreiben. Wenn nun die Verjährung drohe, könne das nicht dem Beschwerdegegner angelastet werden. Der Beschwerdeführerin sei es zumutbar, ihn rechtshilfeweise einvernehmen zu lassen. Ohnehin könne er nicht gezwungen werden, in die Schweiz zu kommen.

Die Beschwerdeführerin wendet ein, sie habe den Beschwerdegegner ordnungsgemäss zur Einvernahme am 5. Juli 2013 in Altdorf vorgeladen. Dieser sei entgegen der Auffassung der Vorinstanz verpflichtet gewesen, die Vorladung zu befolgen. Der Beschwerde an die Vorinstanz sei gemäss Art. 387 StPO keine aufschiebende Wirkung zugekommen. Einen entsprechenden Antrag habe der Beschwerdegegner nicht gestellt. Er sei der Einvernahme unentschuldigt ferngeblieben. Damit gelte die Einsprache gemäss Art. 355 Abs. 2 StPO als zurückgezogen und sei der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen.
2.2. Gemäss Art. 201 StPO ergehen die Vorladungen unter anderem der Staatsanwaltschaft schriftlich (Abs. 1). Sie enthalten insbesondere den Hinweis auf die Rechtsfolgen des unentschuldigten Fernbleibens (Abs. 2 lit. f).
Nach Art. 205 StPO hat, wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, der Vorladung Folge zu leisten (Abs. 1). Wer einer Vorladung unentschuldigt nicht Folge leistet, kann mit Ordnungsbusse bestraft und überdies polizeilich vorgeführt werden (Abs. 4).
Bleibt eine gegen den Strafbefehl Einsprache erhebende Person trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, so gilt gemäss Art. 355 Abs. 2 StPO ihre Einsprache als zurückgezogen.
Die Beschwerdeführerin sandte dem Beschwerdegegner die in deutscher Sprache verfasste Vorladung per Post an seinen Wohnort in der Slowakei. Darin machte sie ihn auf die dargelegten gesetzlichen Folgen des unentschuldigten Fernbleibens aufmerksam.
2.3. Der angefochtene Entscheid entspricht der im Schrifttum vertretenen Auffassung. Danach ist der sich im Ausland aufhaltende Beschuldigte nicht verpflichtet, eine Vorladung in die Schweiz zu befolgen ( ANDREAS DONATSCH UND ANDERE, Internationale Rechtshilfe, 2011, S. 34 f.). Leistet er der Vorladung keine Folge, darf er keinerlei rechtliche oder tatsächliche Nachteile erleiden ( SABINE GLESS, Internationales Strafrecht, 2011, S. 87 N. 292; Bundesamt für Justiz, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Wegleitung, 9. Aufl. 2009, S. 73 und 83). Die Vorladung kommt damit in der Sache einer Einladung gleich. Zwang darf damit nicht ausgeübt werden ( GREGOR T. CHATTON, in: Code de procédure pénale suisse, Commentaire Romand, 2011, N. 2c zu Art. 205 StPO).
2.4. Dem ist zuzustimmen.
Die schweizerische Staatsgewalt beschränkt sich auf das hiesige Staatsgebiet. Die schweizerischen Strafbehörden dürfen daher unter den gesetzlichen Voraussetzungen Zwang auf den sich hier befindenden Beschuldigten ausüben, nicht dagegen auf den sich im Ausland befindenden. Tun sie dies, verletzen sie die Souveränität des ausländischen Staates (BGE 133 I 234 E. 2.5.1 S. 239; HANS SCHULTZ, Male captus bene iudicatus?, SJIR 24/1967 S. 70 und 77 f.). Was die sich dort aufhaltenden Personen zu tun oder unterlassen haben, bestimmt jener Staat. Darin dürfen sich die schweizerischen Behörden nicht einmischen. Wollen sie auf den sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten zugreifen, dürfen sie das nur unter Mitwirkung und Zustimmung des ausländischen Staates tun. Sie müssen diesen also um Rechtshilfe ersuchen ( SCHULTZ, a.a.O.).
Wollen die schweizerischen Behörden den sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten befragen, können sie den ausländischen Staat um die rogatorische Einvernahme durch dessen Behörden ersuchen. Dabei kann jener Staat gegebenenfalls die in seinem Recht vorgesehenen Zwangsmittel anwenden, um den Beschuldigten zum Erscheinen zu veranlassen ( DONATSCH UND ANDERE, a.a.O., S. 35, Bundesamt für Justiz, a.a.O.).
Der sich im Ausland aufhaltende Beschuldigte kann den schweizerischen Behörden zwangsweise nur unter den Voraussetzungen des Auslieferungsrechts überstellt werden. Mit der Slowakei ist die Schweiz durch das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR. 0.353.1) verbunden. Danach fällt die Auslieferung im vorliegenden Fall ausser Betracht. Gemäss Art. 2 Ziff. 1 EAUe wird ausgeliefert wegen Handlungen, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe oder die Freiheit beschränkenden sichernden Massnahme im Höchstmass von mindestens einem Jahr oder mit einer schwereren Strafe bedroht sind. Dem Beschwerdegegner werden lediglich mit Busse bedrohte Übertretungen zur Last gelegt. Die Slowakei liefert überdies eigene Staatsangehörige gestützt auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen nicht aus (Art. 6 Ziff. 1 lit. a EAUe, Art. 23 Abs. 4 der Verfassung der Slowakischen Republik vom 1. September 1992). Dies haben die schweizerischen Behörden hinzunehmen. Sie dürfen auf den Beschwerdegegner keinen Zwang ausüben, damit er sich gleichwohl hierher begibt. Darin läge eine Umgehung des Auslieferungsrechts, was nicht nur die Souveränität der Slowakei verletzte, sondern auch den Schutz ausser Kraft setzte, den das Auslieferungsrecht dem Beschwerdegegner bietet. Insoweit verhält es sich wie bei einer völkerrechtswidrigen Entführung und in Fällen, in denen ein Staat den Beschuldigten durch List aus einem anderen herauslockt (BGE 133 I 234 E. 2.5.1 S. 139; Urteil P.1201/1981 vom 15. Juli 1982 E. 3, publ. in: EuGRZ 1983 S. 435).
Die Schweiz lässt es folgerichtig ebenso wenig zu, dass der ausländische Staat Zwang auf den sich hier befindenden Beschuldigten ausübt, damit er eine Vorladung dorthin befolgt. Gemäss Art. 69 IRSG (SR 351.1) ist, wer eine Vorladung zum Erscheinen vor einer ausländischen Behörde entgegennimmt, nicht verpflichtet, ihr Folge zu leisten (Abs. 1). Vorladungen, die Zwangsandrohungen enthalten, werden nicht zugestellt (Abs. 2).
Vorladungen dürfen die schweizerischen Behörden dem sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten mithin zwar zukommen lassen. Zwangsandrohungen dürfen sie damit aber nicht verbinden. Die Vorladungen stellen damit, wie im Schrifttum zutreffend ausgeführt wird, in der Sache Einladungen dar, denen der Beschuldigte folgen kann oder – ohne Nachteil – nicht. Zwang androhen dürfen die schweizerischen Behörden dem Beschuldigten, wenn er sich, anders als im vorliegenden Fall, freiwillig in die Schweiz begibt und ihm die Vorladung hier zugestellt werden kann.
2.5. Darf der Beschwerdegegner demnach wegen seines Fernbleibens an der Einvernahme in Altdorf keine rechtlichen oder tatsächlichen Nachteile erleiden, kann die Rückzugsfiktion gemäss Art. 355 Abs. 2 StPO nicht zur Anwendung gelangen.
2.6. Folgende Erwägungen führen zum gleichen Ergebnis.
Nach der Rechtsprechung darf ein konkludenter Rückzug der Einsprache nur angenommen werden, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz. Der von Art. 355 Abs. 2 StPO an das unentschuldigte Fernbleiben geknüpfte (fingierte) Rückzug der Einsprache setzt deshalb voraus, dass sich der Beschuldigte der Konsequenzen seiner Unterlassung bewusst ist und er in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet. Zu verlangen ist, dass der Betroffene hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihm verständlichen Weise belehrt wird. Die Rückzugsfiktion kann sodann nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5, in: Pra 2013 Nr. 99 S. 763).
Ob der Beschwerdegegner der deutschen Sprache so weit mächtig ist, dass er den in der Vorladung enthaltenen Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Fernbleibens verstanden hat, kann dahingestellt bleiben.
Wie sich aus seinem Schreiben vom 17. Juni 2013 an die Beschwerdeführerin ergibt, akzeptierte er den Strafbefehl nicht und wollte er sich zur Sache äussern, sich dafür aber nicht in die Schweiz begeben. Hierzu war er nach dem Gesagten nicht verpflichtet. Unter diesen Umständen kann aus seinem Fernbleiben an der Einvernahme in Altdorf nach Treu und Glauben nicht auf sein Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens geschlossen werden.
2.7. Das Strafverfahren nahm demnach trotz des Fernbleibens des Beschwerdegegners an der Einvernahme in Altdorf seinen Fortgang. Da er nicht in die Schweiz kommen wollte, blieb nur seine rechtshilfeweise Einvernahme durch die slowakischen Behörden. Eine solche wäre rechtzeitig durchführbar gewesen, wenn die Beschwerdeführerin das Verfahren mit der nötigen Beschleunigung (Art. 5 Abs. 1 StPO) vorangetrieben hätte. Inzwischen ist die Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Die Beschwerdeführerin wird deshalb das Verfahren einzustellen haben (Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO).“
Quelle: http://www.servat.unibe.ch/fallrecht//bger/140327_1B_377-2013.html
gian.pedolin@schweizer-rechtsanwalt.com
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